Familiengeheimnisse

 

Neulich las ich in einem Buch zum Thema „Ancestral Healing“ ein Kapitel über „Familiengeheimnisse“. Damit sind nicht süße Geheimnisse, wie z. B. das Verschweigen einer frühen Schwangerschaft gemeint. Oder das Heimlichtun der Teenager Tochter, die frisch verliebt ist. In diesem Fall sind dunkle Geheimnisse gemeint, die schwerwiegende Folgen haben können; nicht nur im direkten Umfeld, sondern auch für nachfolgende Generationen. Darüber will ich in diesem Artikel schreiben. 

 

Ich beschäftige mich noch nicht so lange mit dem Thema Ahn*innen und Vorfahr*innen. Das liegt wohl zum einen daran, dass ich nicht besonders eng mit meiner Familie bin und dass es - zumindest gefühlt - viele Geheimnisse und viel Unbekanntes gibt. In meiner Psychotherapie vor einigen Jahren habe ich dazu folgendes Bild beschrieben: Ich laufe durch einen stockdunklen Raum und versuche am anderen Ende den Lichtschalter zu finden. In Trippelschritten, mit nach vorne ausgestreckten Armen, laufe ich langsam voran. Dabei stoße ich ständig gegen Möbelstücke, die ich nicht sehen kann. So fühlte es sich für mich an. Ich weiß nicht wirklich viel über meine Familie.

 

Mir wurde immer gesagt, dass ich zu meiner Familie alles fragen könne. Das konnte ich auch. Sehr oft bekam ich jedoch schwammige oder ausweichende Antworten. Über die Jahre habe ich mir ein paar Informationen zusammen suchen können.* Was ich weiß, ist z. B., dass sich die/der erste Eheparnter*in von einem Familienmitglied das Leben genommen hat. Warum und was die genauen Umstände waren? Weiß ich nicht. Bei der Testamentseröffnung eines verstorbenen Familienmitgliedes kam heraus, dass es eine*n weitere*n Erbe*in gab, von der/dem niemand wußte; geboren in einer außerehelichen Beziehung. Außerdem gab es ein Familienmitglied, dass sehr viel Wert darauf legte, dass das eigene Ableben bestimmten anderen Familienmitgliedern nicht bekannt würde. Dass die Person verstorben war, kam erst Jahre später, durch Zufall heraus. 

 

Das sind alles sehr vage Informationen. Ich spürte jedes Mal, wenn ich fragte, dass weiteres Nachfragen nicht erwünscht ist. Die „alten Geschichten“ sollten ruhen. Für mich war das in Ordnung, da diese Geschichten keine direkte (nachteilige) Auswirkung auf mich hatten. Das ist für viele Menschen ganz anders. 

 

Generationsübergreifendes Trauma 

 

Familiengeheimnisse können in Zusammenhang mit traumatischen Erfahrungen individueller oder kollektiver Natur stehen.  Dabei ist der Begriff „Transgenerationale Weitergabe“ ** zu nennen. Dies meint die unbewusste Weitergabe von traumatischen Erfahrungen auf nachfolgende Generationen oder die Gesellschaft. Menschen der kommenden Generation zeigen Trauma-Symptome, ohne Trauma selbst erfahren zu haben. Dabei kann sich innerhalb einer Familie eine „Darüber reden wird nicht"-Politik etablieren. 

 

Im deutschsprachigen Raum spielt hier sicherlich die deutsch-deutsche Geschichte - mit der Bespitzelung und Überwachung in der DDR und den oftmals einschneidenden Ereignissen für Familien im Zuge des Mauerbaus und der Wende - eine Rolle. Oder auch mit der NS-Zeit und dem Holocaust. Generell haben Krieg und Vertreibung generationsübergreifende Auswirkungen. Im US-amerikanischen Raum werden sicherlich die Nachwirkungen der Sklaverei im Zuge des neuzeitlichen Kolonialismus ein Thema sein. Eine adäquate Aufarbeitung findet sehr oft nicht statt. 

 

Generell wurde - und wird - es in vielen Kulturen als Häresie, Verrat  oder skandalös angesehen, wenn bestehende soziale, politische oder religiöse Überzeugungen nicht geachtet oder in Frage gestellt wurden. Öffentliches oder generell geäußerter Widerspruch zog soziale Ächtung oder Ablehnung, Exkommunikation oder sogar den Tod nach sich. Oftmals findet sich dieses Vermächtnis von Ahnenscham, -Schuld und Angst im Leben von Menschen bis heute.

 

Neben generationsübergreifendem Trauma gibt es sicherlich auch generationsübergreifende Muster. D. h. nicht nur Verhaltens- und Handlungsmuster, sondern auch sprachliche. Zu letzterem machte ich eine interessante Erfahrung. Ich erinnere mich an eine bestimmte Situation, in der ich ganz plötzlich ein Sprichwort in meinem Kopf hatte, das ich selbst nicht nutze und - soweit ich mich erinnern kann - in meiner Kindheit oder Jungend keine Rolle spielte. Es ging um das Thema Leistungsantreiber, was sicherlich für viele von uns - durch frühere Generationen weitergegeben - ein Thema ist. Dabei hörte ich: „Du bist Dir wohl zu fein Deine Hände schmutzig zu machen“. Dieser Gedanke stach richtig heraus. Ich verwende diese Redewendung nie und habe sie auch in meiner Familie nicht gehört. Ich hatte irgendwie das Gefühl sie kam aus einer anderen Zeit, von einer ganz anderen Person - von einem Vorfahren/einer Vorfahrin? 

 

Arten von Familiengeheimnissen 

 

Wenn wir tiefer in die Materie einsteigen, kommt die Frage auf welche Arten von Familiengeheimnissen gibt es eigentlich? Hierzu will ich zwei Menschen vorstellen, die sich intensiv mit diesem Thema beschäftigt haben. Der Psychologe und Theologe John Bradshaw beschreibt in seinem Buch „Family Secrets“ (1996) Arten von Familien Geheimnissen. Grundsätzlich unterteilt er diese in konstruktive und destruktive Familiengeheimnisse, wobei die destruktiven nochmals in vier Gruppen aufgeteilt werden („hinterlassen unheilbare Wunden“, „gefährlich“, „schädlich“ und „leidvoll“).

 

Einige Beispiele für destruktive Geheimnisse können sein: 

  • Mord oder Sexualdelikte wie Vergewaltigung, Inzest und/oder sexuellen Missbrauch
  • Substanzmissbrauch (z. B. Alkohol) andere pathologische Süchte (z. B. Spielsucht) 
  • (Verheimlichte) Adoption
  • Untreue
  • Abtreibung
  • Psychische Erkrankungen

 

Als weitere Expertin auf dem Gebiet, will ich die Psychiaterin und Psychotherapeutin Evan Imber-Black vorstellen. Sie beschreibt vier Typen von Geheimnissen: Süsse, essentielle, vergiftende und gefährliche. Für die Perspektive dieses Artikels sind die letzten beiden von Bedeutung. Der Vollständigkeit halber will ich die ersten beiden kurz anreissen. 

 

Süsse Geheimnisse sind meist zeitlich begrenzt und betreffen z. B. Geschenke oder Überraschungspartys. Essentielle Geheimnisse stehen in enger Verbindung zu Privatangelegenheiten eines Menschen und schaffen, durch das Ziehen von Grenzen, eine besondere Intimität und Verbundenheit zwischen Menschen (bspw. „Schlafzimmergeheimnisse“).

 

Schauen wir uns nun die weiteren 2 Arten von Geheimnissen an. 

 

Vergiftende Geheimnisse wirken sich meist verheerend auf zwischenmenschliche Beziehungen aus. Sie können mehrere Generationen alt sein oder erst wenige Tage. Mit einem vergifteten Geheimnis zu leben nährt Zweifel an der Verlässlichkeit anderer Menschen. Beispiele hierfür sind: Aussereheliche Beziehungen oder eine (verschwiegene) Abtreibung. Sie haben eine negative Wirkung im System, stellen aber meist keine akute Bedrohung für das Leben eines Menschen dar.

 

Zu gefährlichen Geheimnisse gehören vor allem körperliche Gewalt und sexueller Missbrauch sowie Drogen- und Alkoholmissbrauch. Auch Selbstmordpläne sowie das Vorhaben von verbrecherischen Aktionen gehören ebenfalls dazu. 

 

Wie werden Geheimnisse weiter vererbt?

 

Bei allem was bisher zusammen getragen wurde, kommt eine weitere Frage auf und zwar: Wie werden Geheimnisse weiter vererbt? Dazu finden sich bei Familientherapeut Peter K. Gerlach 4 Punkte. Familiengeheimnisse, bestimmte familiäre Überzeugungen oder einfach Unwissenheit, die diese Geheimnisse weiterleben lässt, können folgendermaßen weitergegeben werden: 

 

1) Auslassen, Weglassen (Omission)
„Mama hat nie über ihre Kindheit gesprochen, insbesondere nicht über ihren Großvater.“

2) Absicht (Intention)
Mutter zu Tochter: „Ich fände es besser, wenn Du es nicht Deiner Freundin erzählst (denn es könnte mich oder jemand anders verletzen).“

3) Tradition (Tradition)
Wenn Kindern gelehrt wird über bestimmte Dinge allgemein oder zu bestimmten Familienmitglieder keine Fragen zu stellen. „Tante Maria zu fragen, warum sie keine Kinder hat, ist ihr unangenehm. Also frag nicht!“ 

4) Unwissenheit/Unkenntnis (Unawareness)
Eltern oder Bezugspersonen, die Geheimnisse und ihre Auswirkungen auf Menschen und Beziehungen nicht „sehen“ oder erkennen wollen. Paradoxerweise benötigt das Vermeiden oder Ausweichen von toxischen Familiengeheimnissen das Wissen über das Nicht-Wissen. 

 

 

Auf dieser Reise kommt sicherlich irgendwann die Frage auf, ob Geheimnisse gelüftet werden müssen? Psychotherapeut Günter Reich sagt dazu: „Ob Geheimnisse oder Mythen aufgedeckt werden sollten, hängt in erster Linie davon ab, ob von ihnen eine schädliche Wirkung ausgeht. Nicht jeder Schleier muss gelüftet, nicht jeder Mythos aufgeklärt sein.“ Das ist sicherlich ein nachvollziehbarer und praktikabler Ansatz. Natürlich muss jeder Mensch für sich entscheiden, ob er Geheimnissen auf den Grund gehen will oder nicht. Das hängt auch damit zusammen, wie (negativ) beeinflusst jemand von einem Familiengeheimnis ist. Gerade in Bezug auf persönlich erlebtes Trauma oder überliefertes Traum ist professionelle psychotherapeutische Hilfe angezeigt.

 

Oftmals ist es auch so, dass es sich als schwierig oder herausfordernd zeigt Geheimnisse aufzudecken. Menschen sind vielleicht schon verstorben, es besteht kein Kontakt mehr oder Familienmitglieder stehen anderweitig nicht für eine Aufklärung zu Verfügung. Es kann auch einfach die emotionale Hürde zu groß sein, sich dem Thema anzunehmen.

 

Ich persönlich habe diese „Heilarbeit“ für mich alleine gemacht, da wie oben schon erwähnt, Menschen aus verschiedenen Gründen nicht zur Verfügung standen bzw. die emotionale Hürde zu groß war. Dazu habe ich viel „Vergebungsarbeit“ nach Colin C. Tipping gemacht. Hinzu kam vor kurzem das Ahnen Heil- und Loslassirtual von Jeanne Ruland und Shantidevi Felgenhauer. Das war sehr heilsam und ich spürte dabei in mir den Satz "Ich bin angekommen". Ein berührender Moment.

 

Zusätzlich habe ich an Samhain Veranstaltungen teilgenommen, wo es u. a. um das Lossagen von alten, überholten Verbindungen und Seelenverträgen ging. Samhain ist ein altes keltisches Ahnen- und Totenfest und steht für den Beginn der dunkler werdenden Winterzeit. Dabei geht es auch darum den Segen der Ahnen zu spüren und in die Verbindung mit ihnen zu gehen. Es wird am 31. Oktober eines Jahres gefeiert. 

In einer dieser Sessions hörte ich ganz deutlich: „Es endet mit Dir“. Die Botschaft "Es endet mit Dir" ist sehr befreiend. Sie bestärkt mich darin, wie wirksam diese Arbeit ist. Mit diesen Worten will ich gerne diesen Artikel schließen. Ich hoffe, ich konnte Dich inspirieren und anregen, Dich tiefer mit diesem Thema zu beschäftigen.

 

 


* Um die Privatsphäre von Familienmitgliedern zu schützen nenne ich keine Namen und nenne keine Verwandtschaftsverhältnisse 

** Transgenerational Transmission of Trauma

 

Quellen:

Steven Farmer, "Healing Ancestral Karma", 2014 

John Bradshaw, "Familiengeheimnisse", 2014 

John Bradshaw, "Family Secrets", 1996 

Evan Imber-Black, "The Secret Life of Families", 1999

Evan Imber-Black, "Die Macht des Schweigens", 2000

Peter K. Gerlach, "Does your family keep secrets?" (Youtube Video)

Rolf Opitz, "Familiengeheimnisse" (pdf)

Günter Reich, "Bei uns war das ganz anders" (pdf) 

Günter Reich, "Es sollte keinen Zwang geben ein Geheimnis zu offenbaren", Psychologie Heute

 

Weiterführende Inhalte:

Mark Wolynn, "It didn’t start with you", 2022

Stefan Limmer, "Versöhnung mit den Ahnen", 2015 

Jeanne Ruland, Shantidevi Felgenhauer, "Ahnenheilung", 2020

Galit Atlas, "Emotional Inheritance", 2022

 

 

Eine passende Doku zum Thema Familiengeheimnissen ist "Oma, Mama, ich: Warum wir abgetrieben haben

 

Bildnachweis: Jakub Kriz, unsplash.com